„Es ist schon bizarr – man tut praktisch etwas gegen jegliche Vernunft“

Sigfried G. hat seine florierende GmbH in Deutschland geopfert, sein Haus, was er über viele Jahre aufwändig renoviert hatte, verkauft und ist in ein Land gezogen, in dem der Lebenstraum nicht weniger Menschen ist, in Westeuropa zu arbeiten und zu leben. In dem Gespräch schildert der 50-Jährige seine Beweggründe für den Umzug in die Ukraine, nennt Vor- und Nachteile für ein Leben in der ehemaligen Sowjetunion und beschreibt, wie es sich anfühlt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Luxus in Deutschland...
Gülich’s Bad in Deutschland – Luxus pur…

Im Jahr 2004 haben Sie sich dazu entschieden, Ihr Heimatland Deutschland zu verlassen und gemeinsam mit Ihrer Frau in die Ukraine auszuwandern. Wie sah Ihr Leben in Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt aus?

Ich hatte eine eigene kleine GmbH mit sieben Mitarbeitern. Wir haben Software für Steuerungsunterlagen entworfen, die im industriellen Produktionsumfeld eingesetzt werden. Die Leidenschaft für das Programmieren hatte ich schon als Jugendlicher. Mit 17 habe ich meine Nächte nicht in der Disko, sondern vor dem Computer verbracht. Und finanziell hat sich das Ganze auch ausgezahlt. Ich hatte ein Haus und eine Wohnung. Materiell gesehen fehlte es mir an nichts – mein Bad war 38 qm groß, mit Jaccuzzi ausgestattet und allem, was man sich so wünscht.

... sozialistischer Einheitsbau in der Ukraine.
…das Bad in der ukrainischen Stadt Sumy: typisch sozialistischer Einheitsbau 

Irgendwann kam bei Ihnen dennoch der Punkt, an dem Sie sich für einen Ausstieg entschieden haben.    

Ja, das war zum Jahreswechsel 2003/ 2004. Die Gründe, die mich zu diesem Schritt bewegt haben, waren vielschichtig. Erst einmal natürlich meine Frau. Im Jahr 2000 habe ich sie in der Ukraine kennengelernt. Zu dem Zeitpunkt konnte ich mir unter keinen Umständen vorstellen dort zu leben, da ich meine Firma in Deutschland hatte. Meine damalige Freundin ist dann zu mir gekommen, wir haben geheiratet und ein paar Jahre zusammen in Deutschland gelebt. Während der Zeit, hat sie aber immer wieder versucht, mich zu einem Umzug in die Ukraine zu bewegen und mir das Leben dort schmackhaft zu machen.

Wie kam dann der Umschwung?

Dafür war zugegebenermaßen nicht allein meine Frau verantwortlich. Hinzu kamen größtenteils gesundheitliche Probleme. Ich habe eine Knochenhautentzündung bekommen und konnte meine Hand kaum noch bewegen. Das war der erste kleine Dämpfer – ich hab eben gemerkt, dass auch ich keine Maschine bin, die einfach so funktioniert.

Was kam dann?

Kurz danach habe ich mir auch noch einen Nerv im Rücken eingeklemmt und konnte mich kaum bewegen. Meine Frau hat immer gesagt „Mach ruhig so weiter! Über deine Rente musst du dir eh keine Sorgen mehr machen, denn die erlebst du gar nicht mehr!“ Dann hat mir meine Frau davon erzählt, dass die Kosten und die Steuerbelastung in der Ukraine viel geringer sind. „Wenn du dein Haus hier verkaufst und dann in die Ukraine gehst, müsstet du dort nicht mehr arbeiten“, sagte sie zu mir. Das war natürlich eine Perspektive, die ich erst einmal so in Deutschland nicht hatte. Zu dem Zeitpunkt habe ich mich zum ersten Mal darauf eingelassen, darüber nachzudenken. Beim Jahreswechsel 2003/2004 habe ich zu meiner Frau dann gesagt: „Ok, das machen wir jetzt!“

Wie haben Freunde und Verwandte auf diesen Schritt reagiert? Schließlich gilt die Ukraine nicht unbedingt als typisches Auswanderer-Land.

Total verständnislos. Die einen wollten es nicht wahrhaben, andere haben abgewartet und wiederum andere wussten mit der Ukraine nichts anzufangen. Es ist ja auch bizarr – man tut praktisch etwas gegen jegliche Vernunft. Ich weiß auch nicht, welche Wetten da im Hintergrund gelaufen sind. Einige haben gesagt, „Ach du kommst eh bald wieder, das wird nicht lange gehen.“ Deswegen habe ich meine Freunde auch nicht in den Entscheidungsprozess mit einbezogen, sondern ihnen nur noch die Fakten erzählt. So nach dem Motto – „Ich habe eine Entscheidung getroffen und so läuft das Ganze ab“.

Nach Ihrer Entscheidung sind fünf Monate vergangen, bis Sie in die Ukraine gereist sind, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Haben Sie danach mit einem Schlag alle Zelte in Deutschland abgebrochen?

Nein, dazu waren meine Zweifel zu groß. Ökonomisch machte es einfach keinen erkennbaren Sinn, so etwas zu tun. Ich wollte erst einmal schauen, inwieweit meine Vorstellungen realisierbar sind und inwiefern ich das Geschäft von der Ukraine aus weiterführen kann. Zu sagen „Hey, ich verkaufe mein Haus, bringe mein Geld in die Ukraine und wir leben von den Zinsen“ – das war mir zu haarig. Ich bin also nicht dem Vorbild der Auswanderer-Soaps gefolgt, sondern bei mir hat sich der Abschied über viele Jahre hingezogen.

Der Chef weit weg in einem fremden Land  – kann sowas gut gehen? Wie haben Ihre Mitarbeiter auf den Ausstieg reagiert?

Um ehrlich zu sein, habe ich meinen Mitarbeitern zuerst nicht erzählt, dass es ein endgültiger Abschied wird. Ich habe mir Geschichten ausgedacht, wieso ich in die Ukraine muss – wegen der Familie meiner Frau, wegen Geschäftsterminen etc.  Ich hatte Angst, dass mir die Leute weglaufen. Dann habe ich nach außen hin lieber das Bild gewahrt. So nach dem Motto, „Das ist der arme Geplagte, seine Frau zwingt ihn in ein Entwicklungsland, wo er unter schlimmen Umständen lebt“ (lacht). Sonst wären womöglich Neidgefühle aufgekommen und Mitarbeiter und Kunden schnell weggewesen. Immerhin hat die Firma noch bis zum Mai dieses Jahres überlebt. Somit hatte mein „Abenteuer“ zumindest für meine Mitarbeiter keine negativen Konsequenzen, was mir wichtig war. Ich habe mir hier jetzt einen eigenen Kundenstamm aufgebaut und kann sehr gut davon leben.

Jetzt sind Sie ja schon eine Weile dort. Um es mal auf den Punkt zu bringen – wie lebt es sich in einem Land der ehemaligen Sowjetunion?

Man lebt hier viel freier – es gibt es zwar auch Gesetze und Regeln, aber die werden nicht so strikt befolgt. Ein Beispiel – die Verkehrsregeln. In der Ukraine kann man die eher als freundliche Empfehlungen betrachten, mehr nicht. Bei Verstößen findet man eine Übereinkunft mit den Polizisten, man zahlt ein wenig direkt an ihn und das war’s dann.

Wie hat sich Ihr persönliches Leben im Vergleich zu dem in Deutschland geändert?   

Das ist wie wenn man in zwei Welten lebt, das kann man gar nicht vergleichen. In Deutschland bin ich jeden Tag früh morgens aufgestanden, wollte als Chef immer der erste und letzte im Büro sein. Mein Leben war weitestgehend fremdbestimmt – und das obwohl ich selbstständig war. Heute ist das ganz anders. Ich stehe eigentlich jeden Tag dann auf, wann ich Lust habe. Ich fühle mich frei, ich will keine Mitarbeiter mehr, ich will diese Verpflichtungen nicht. Keine andere Familie soll noch länger von meinem Geschick abhängen.

Also ein Aussteigerleben wie im Bilderbuch…

Nun ja, es gibt auch Phasen, in denen ich auch hier sehr konzentriert arbeite. Aber es gibt eben auch die, in denen ich so gut wie nichts mache. Ich bin zu einer Art Saisonarbeiter geworden. Aber Arbeit ist mir schon noch wichtig, allein wegen der Bestätigung. Es ist schon merkwürdig: Früher wollte ich unbedingt die finanzielle Unabhängigkeit erreichen. Nun habe ich sie und es ändert letztlich doch nichts am Leben. Wohl nur an der Art und Intensität, wie ich an meine Tätigkeiten heran gehe.

Wie hat sich Ihr Bild über das Leben in der Ukraine mit der Zeit gewandelt?

Als ich das erste Mal in der Ukraine war, habe ich mir gedacht, „Wie sieht das denn hier aus?“ Die Straßen hatten große Löcher, der Putz fiel von den Wänden – man hatte eben nicht diese Akkuratesse aus Deutschland. Meine Frau hat meine Reaktion nie verstanden und mir gesagt, dass es doch nur wichtig sei, wie unsere Wohnung aussieht und nicht die Umgebung. „Was ändert das an deinem persönlichen Leben?“, hat sie mich gefragt. Dann habe ich nachgedacht und gemerkt, dass sie Recht hat. Mir ist bewusst geworden, wie oberflächlich ich Dinge beurteile, weil es in Deutschland wohl einfach eine gewisse kulturelle Norm ist. Ich finde es grundsätzlich nicht verkehrt, wenn man mal in ein Land geht, das etwas außerhalb des eigenen Kulturkreises liegt, weil es einen eben auch neues über sich selbst verrät und man alles ein bisschen mehr aus der Distanz betrachtet.

Gibt es Dinge, die Sie in der Ukraine vermissen?

Es sind Kleinigkeiten, die es dort einfach nicht gibt. Als Mensch, der in Bayern gelebt habt, sehne ich mich natürlich nach bayrischem Leberkäse. Meine Strategie sieht da wie folgt aus: Wenn ich in Deutschland bin, dann essen ich jeden Tag Leberkäse, bis er mir zu den Ohren herauskommt (lacht). Aber jetzt mal Spaß beiseite, etwas, das ich wirklich vermisse, sind die Serviceorientierung und die Dienstleistungen in Deutschland. So etwas gibt es hier nur in Einzelfällen.

Würden Sie sich als Aussteiger bezeichnen?

Das kommt natürlich ganz darauf an, wie man das Wort definiert. Die Leute, die ich unter dem Attribut Aussteiger kennengelernt habe, die holen sich ein 27 Jahre altes, halb verrostetes Auto und fahren damit in der Weltgeschichte rum. Ich will das gar nicht kritisieren, das ist mit Sicherheit sehr spannend – aber so bin ich nicht. Meine Maxime war es nicht, auf alles zu verzichten. Ob ich als Aussteiger durchgehe, sollen andere entscheiden. Einen Minimalstandard möchte ich schon aufrechterhalten. Aber ich habe schon gemerkt, dass ich den Luxus, den ich in Deutschland hatte, nicht wirklich vermisse. Hier in der Ukraine haben wir eine Einbauküche für 500 Dollar gekauft, in Deutschland habe ich mir meine Küche vom Schreiner speziell anfertigen lassen. Man umgibt sich mit materiellen Gütern – unabhängig davon ob man sie braucht oder nicht. Aber was hab ich davon?

Wie groß ist ihr Bad jetzt?

Ländliche Idylle auf der Halbinsel Krim
Ländliche Idylle auf der Halbinsel Krim

Wollen Sie das wirklich wissen? (lacht) Wir haben eine Wohnung in Krim, der Halbinsel, wo wir im Sommer leben. Das ist sozialistischer Wohnungsbau, fünfter Stock mit einem Badezimmer, knapp 5 qm groß. Aber das ist ok, entweder man nimmt es oder man lässt es. Dann hat meine Frau noch ein Haus in Sumy, dort leben wir dann im Winter. Das ist schon etwas hochwertiger eingerichtet – aber nicht vergleichbar mit der Ausstattung meines Hauses in Deutschland.

Eine räumliche Veränderung geht ja meist auch mit einer persönlichen Veränderung einher…

Meine Frau sagt, dass ich in jedem Fall kommunikativer, frecher und gleichzeitig auch ruhiger geworden bin. Früher haben mich Details schnell auf die Palme gebracht. Heute sehe ich das vielleicht alles ein wenig ukrainischer (lacht). Haben wir ein wir ein wirkliches Problem, ist jemand tot krank? Nein – also gibt es kein Problem!

Á propos Problem.. Die Ukraine ist immer wieder durch politische Verhaftungen in die Schlagzeilen geraten –  zuletzt die Gefangennahme der ehemaligen Regierungschefin Timoschenko. Geht so etwas so spurlos an einem vorbei?

Ich weiß nicht, ob es einen aufregt, mich regt es nicht wirklich auf. Obwohl ich hier schon einige Jahre lebe, würde ich die Ukraine immer noch nicht als „mein“ Land bezeichnen. Vielleicht bin ich da etwas gelassener, gleichgültiger und unkritischer was sowas angeht. Ich habe einmal mit einem Ukrainer über die Politik gesprochen und er hat es sehr gut auf den Punkt gebracht: Seiner Meinung nach gibt es drei Ukraine. Die Ukraine Nummer 1 ist die Ukraine, so wie du und ich sie kennen, die Ukraine der normalen Leute, die Realität. Dann gibt es die Ukraine Nummer 2, die Ukraine der Spitzenpolitiker und Oligarchen, die die Geldströme im Land und die Macht kontrollieren. Hier wissen wir gar nicht, wie diese Ukraine aussieht, dafür sind wir zu klein und unbedeutend. Und dann gibt es die Ukraine Nummer 3, das ist die, die in den Medien dargestellt wird. Das ist wiederum eine ganz andere Ukraine.

Wenn Sie jetzt noch einmal die Wahl hätten – würden Sie genau so wieder aussteigen?

Für mich persönlich, war es absolut die richtige Entscheidung. Trotzdem würde ich nicht jedem dazu raten, schließlich müssen auch Dinge wie der finanzielle Background stimmen. Aber für mein persönliches Leben war es der richtige Schritt – ich bin jetzt zu einem ruhigeren und gelassen Mensch geworden – und das freut nicht nur meine Frau.


4 Gedanken zu “„Es ist schon bizarr – man tut praktisch etwas gegen jegliche Vernunft“

  1. Schöne Geschichte, m.E. zeigt sich da sehr schön, dass man überall glücklich sein kann und wir uns zu oft von von scheinbarer Sicherheit (Versicherung, Geld) leiten lassen und zu wenig riskieren. Follow your Heart! Hat er gemacht, fand er gut! Toll!

  2. Dennoch hätt ich mir gewünscht Dich hier auch mal zu sehen zu erleben, einen Erzeuger zu haben in einem anderen Land der Deutschland den Rücken zugekehrt hat ist genauso hart zu ertragen wie die Tatsache einen Vater zu haben der nie einer war oder sein wollte . Ich wünsche Dir und Deiner Frau alles Gute … ja und lernen kann man bestimmt aus Deiner Geschichte, man sollte leben und nicht nur streng nach der deutschen Uhr gehen.

  3. Finde dies einen äusserst spannenden Artikel über das Aussteigen. Sollten wir uns nicht viel mehr um die Harmonie zwischen Arbeiten und Freizeit kümmern? Solch mutige Menschen wie dich sollte es mehr geben. Auch mal etwas zu wagen heisst die Maxime.

    Allgemein finde ich, wir arbeiten viel zu viel. Man sollte auch mal geniessen können.

    Wie schon piddyy geschrieben hat:
    http://piddyy.blogspot.ch/2013/09/guess-what-im-back-again.html?view=classic

    Gruss
    Pius

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